Vom Egerland ins Hessenland

Margarethe Juricin erinnert sich im 90. Lebensjahr als „Spätaussiedlerin“

Schon am Telefon fragt sie mich: „Wen interessiert das denn noch?“ Und beim Besuch in der Wohnung im Klinker scheint sie immer noch nicht davon überzeugt zu sein, dass sie über die Nachkriegszeit viel zu erzählen hat. Am 28. Februar feierte Margarethe Juricin ihren 90. Geburtstag. Und schaut dann doch zurück. Sie ist eine geborene Stark aus Maria Kulm (heute: Chlum Svaté Maří in Tschechien), bekennende Egerländerin, geboren in einer Zeit als die Nationalsozialisten die Tschechoslowakei annektierten und in der Folge mit dem „Großdeutschen Reich“ den Zweiten Weltkrieg begannen.

 

Die Erinnerung daran bedrückt Margarethe Juricin noch immer. Die politische Gemengelage ihrer Kindheit muss deshalb zunächst mit mir wie in einem Schnellkurs in Geschichte geklärt werden: Adolf Hitler verlangte, die von Sudetendeutschen besiedelten Grenzgebiete „Heim ins Reich“ zu holen. Im „Münchner Abkommen“ erhielt er sogar die Zustimmung von Frankreich, Großbritannien und Italien, die den Frieden in Europa nicht gefährden wollten. Die Behauptung, das wäre die letzte territoriale Forderung, war aber eine Lüge. Bereits im Herbst 1938 hatte die Wehrmacht den Auftrag erhalten, „die Erledigung der Rest-Tschechei“, wie die Nazi-Terminologie es nannte, vorzubereiten.

 

 


Vater im Schacht, Franz beim Tanz

Darunter mussten alle Deutschen nach der Kapitulation Deutschlands leiden, insbesondere die in den ehemals besetzten Gebieten. Dabei erinnert sich die Altersjubilarin auch an gute Zeiten, rund um die Wallfahrtskirche in ihrer Gemeinde und die Kuranlagen in Franzensbad und Marienbad. Mit Freundinnen ging es auf dem Fahrrad am Wochenende in die Nachbarorte und sie verdiente als Handschuhnäherin „gutes Geld im Akkord“. Der Vater arbeitete „im Schacht“ und weil der Bergbau für den neuen Staat lebenswichtig war, durfte die Familie zunächst nicht ausreisen. Fast alle anderen Egerländer wurden 1946 vertrieben, erst 1967 kamen die Juricins als „Spätaussiedler“ über eine „Sammelstelle“ in Nürnberg und einem „Lager“ in Hochheim nach Bischofsheim. „Wir durften glücklicherweise alles mitnehmen!“

 

Die „Egerländer Gmoi“ als „Neue Heimat“

Mittlerweile hatte Margarethe ihren Franz beim Tanz kennengelernt und sie waren mehr als 65 Jahre verheiratet. Von der Mietwohnung im Attich ging es mit zwei Söhnen und einer Tochter ins eigene Haus in der Keltenstraße. „Aber wo ich geboren bin, das werde ich nicht vergessen“, sagt sie ohne große Emotionen. Im Egerland seien ihre Wurzeln, doch die selbstgestellte Frage: „Zurück?“ beantwortet sie deutlich mit „Nein!“ In der „Egerländer Gmoi“ fanden sie ihre „Neue Heimat“, bei der „Maibaum-Feier“ und anderen Festen haben sie in Tracht „getanzt wie der Lump‘ am Stecken“. Sie haben den Saal für die „Kirwa“ geschmückt, das „Gmoi Bladl“ verteilt und waren bei allen Ausflügen dabei. „Ohne die Gmoi hätten wir nicht so viel erlebt“, auch bei den Bundes- und Hessentreffen. 

 

Nach dem Zerfall des „Ostblocks“ ging es einmal an Pfingsten zur Schulfreundin zurück und zur Kur nach Marienbad, dem heutigen, Mariánské Lázně. Margarethe Juricin zeigt mir einen großformatigen Bildkalender von dort und bedauert sehr, dass die dritte Generation nicht mehr das Interesse hat, die Traditionen der Egerländer zu pflegen. Die „Gmoi“ wird sich dieses Jahr wohl auflösen. Man könnte auch sagen, die Integration in Bischofsheim war erfolgreich. Die Kinder, vier Enkel und fünf Urenkel haben auch deshalb den Geburtstag gebührend feiern. 

 

Prof. Dr. Wolfgang Schneider