Neues vom Stadtschreiber Hans-Benno Hauf zu »75 Jahre Kino in Gustavsburg«

Notkapelle – Kino – Kulturstätte

Das Gebäude der Burg-Lichtspiele ist eines der ältesten Häuser von Gustavsburg. Nachdem sich im Zuge des Eisenbahnbrückenbaus die spätere Firma MAN an der Mainmündung etabliert hatte, entstand zunächst eine Siedlung für zugezogene Mitarbeiter und deren Familien. Viele von ihnen waren evangelisch und ihnen fehlte eine Kirche. So entstand 1899 eine Notkapelle, die bis zum Bau der Evangelischen Kirche ihrem Zweck diente. Multifunktional – auch in schlechten Zeiten. Von 1916 bis 1921 waren französische Besatzungssoldaten in dem kleinen Fachwerkbau kaserniert. Nach deren Abzug wurde die ehemalige Kapelle als Turnhalle genutzt – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Weil ihr Schulgebäude nach Kriegsende mit amerikanischen Soldaten belegt war, kamen Schüler zum Unterricht in die ehemalige Kapelle. Auch als Wahllokal für die erste Nachkriegsgemeindevertretung diente sie. 

Die Idee, hier ein Kino einzurichten, hatte Kurt Palm, Rüsselsheimer Filmpionier und gebürtiger Gustavsburger. Am 26. März 1947 erhielt er von den amerikanischen Besatzungsbehörden die Genehmigung, das Kino „Burg-Lichtspiele“ zu betreiben. Es war die erste Genehmigungsurkunde zur Eröffnung eines neuen Lichtspielhauses nach 1945 und im wahrsten Sinne des Wortes ein Lichtblick nach dem Krieg. Kurt Palm holte von den Trümmergrundstücken in Mainz Mauersteine und schleppte sie in Rucksäcken und Taschen über die Behelfseisenbahnbrücke nach Gustavsburg. Den feuerfesten Vorführraum hat er selbst gemauert und darin zwei alte Kinomaschinen, die er in der französischen Besatzungszone aufgestöbert hatte, aufgebaut. 

 

Am 3. April 1947, Gründonnerstag, war es endlich soweit, dass die Burg-Lichtspiele ihre Pforten öffnen konnten. Das Kino verfügte über 280 Sitzplätze, der Eintrittspreis betrug 0,60 RM und gespielt wurde wochentags um 20.30 Uhr sowie sonntags um 15.00 Uhr, 17.00 Uhr, 19.00 Uhr und 21.00 Uhr.  

1986 erwarb die damalige Gemeinde Ginsheim-Gustavsburg das Lichtspielhaus von den MAN-Werken zunächst in Pacht, um ein kommunales Kino zu betreiben, das Bürgerinnen und Bürger in die Programmgestaltung einbezieht und sinnstiftende Freizeitaktivitäten unterstützt. Schnell entwickelten sich die Burg-Lichtspiele eingebettet in das von Karl Brauer geleitete Kulturbüro mit Kino-AG, Probe- und Veranstaltungsbühne Ignous und einem vielseitigen Musikprogramm zu einer Kino-Kultstätte, die auch Publikum aus Mainz und der ganzen Umgebung anzog. Anfang der 1990er-Jahre erkannte der neu zugezogene Jongleur und Entertainer Reinhold Becker alias Hans-Dieter Fluxs das Potenzial der Burg-Lichtspiele. 1993 etablierte er die Veranstaltungsreihe „Achterbahn“ im Kinosaal, konzipiert als bunte Kleinkunst-Wundertüte. Sie war von der ersten Vorstellung an ausverkauft.

Schon bald stieß der Ginsheimer gelernte Jongleur und Moderator Axel Schiel hinzu, der die „Achterbahn“ seit seinem 18. Lebensjahr bis heute leitet. Gemeinsam machten die beiden die Veranstaltungs-Reihe im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt. Getrud Pöltzleithner als Bauchladenfrau und gute Seele sowie die Luftartistin Andrea Engler stießen später zum engsten Team hinzu. Kulturamtsleiter Karl Brauer entwickelte die Idee des Kinderprogramms „Achterbähnchen“, die heute vom Achterbahn e.V. umgesetzt wird.

 

Bausubstanz am Ende – Kino am Ende? 2008 wurde das Gebäude als baufällig eingestuft und schnell war der Beschluss zum Abriss gefasst. Dagegen formierte sich erheblicher Widerstand, der vom kurz zuvor auf Initiative von Bürgermeister Richard von Neumann gegründeten Verein „Freunde der Burg-Lichtspiele“ erfolgreich kanalisiert wurde. Auch die Gemeindevertretung erkannte schließlich den historischen, kulturellen und identitätsstiftenden Wert des Hauses. Die denkmalschutzgerechte Sanierung und der Umbau der ehemaligen Kapelle zu einem multifunktionalen Veranstaltungsort durch das Gustavsburger Architekturbüro Wagner & Ewald dauerten zwei Jahre, in denen sich der Verein der Freunde der Burg-Lichtspiele u.a. erfolgreich für Barrierefreiheit und flexible Bestuhlung einsetzte. In der Zwischenzeit organisierte Axel Schiel ein Zelt, das, von der Gemeinde mit Spendengeldern erworben, durch Mitarbeiter und Honorarkräfte des Kulturbüros als Spielstätte für den provisorischen Spielbetrieb hergerichtet wurde. Kurz vor der Wiedereröffnung sorgte ein Wasserschaden für einen erneuten Aufschub. In Kooperation mit dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration produzierte der Achterbahn e.V. 2014 die erste inklusive TV-Sendung Hessens mit Gebärdensprache, Untertiteln und Audiodeskription. In der Corona-Pandemie entwickelte der Verein das neue Fernseh-Konzept „Showlooping aus der Mainspitze“ auf Rhein-Main-TV, welches auch ohne Live-Publikum auskommt.

Über all diese Entwicklungen wurde das Haus Burg-Lichtspiele zum Anziehungspunkt für Freunde der Kleinkunst, des Films, der Musik und vor allem auch für Kinder aus der ganzen Region. Heute sind die Burg-Lichtspiele eine vielseitige, technisch hervorragend ausgestattete Kulturstätte, die mit ihrem besonderen Charme begeistert. 

Stadtschreiber Hans-Benno Hauf 

im März 2022

Quellen: Aufzeichnungen von Claus 

Daschmann, Karl Brauer, Axel Schiel,  

www.burg-lichtspiele.com


An Gründonnerstag vor 75 Jahren öffneten die Gustavsburger „Kurt Palm“ Burg-Lichtspiele erstmals ihre Türen für Zuschauer. 

Ein Jubiläum, welches in diesem Jahr mit zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen gewürdigt wird. 




17.03.2022