„Er wollte kein Bauer werden und ich wollte keinen haben!“

Anna Schorr lebt seit 95 Jahren auf ihrem Hof „mitten im Ort“

Wenn auf irgendjemanden in Bischofsheim der Satz „Sie lebt mitten im Ort“ zutrifft, dann auf Anna Schorr in der Mittelgasse oder wie die Alteingesessenen sagen: „An der Weed“. Dort erblickte sie am 26. Mai 1930 als Tochter von Jakob Schilling XII. (der Zwölfte) und Margarethe, geborene Schneider, das Licht der Welt, dort feiert sie auch nächste Woche ihren 95. Geburtstag. Die „Weed“ war früher der Platz, wo man sich traf „und wo wir Kinder spielen konnten“, wie schon die Generationen vor ihr. Die sollen im Winter dort mit Wasser aus dem ehemaligen Brunnen ihren Spaß mit einer Eisbahn gehabt haben.

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Tiere und Früchte

Anna Schorr empfängt mich in ihrem Wohnzimmer und erzählt Geschichten aus der Geschichte; von Kühen und Schweinen, Hühnern und Gänsen; von Kartoffeln und Rüben, vom Roggen und Weizen; von Äpfeln und Birnen, Zwetschgen und Walnüssen: „Nach der Konfirmation habe ich in Stall und Feld überall mitmachen müssen.“ Im sogenannten „Dritten Reich“ war sie „Jungmädel“ und beim „Bund deutscher Mädel“, erinnert sich an „schöne Stunden“ bei Gruppentreffen in der Spelzengaß-Schule, aber auch daran, dass der Vater als Ortslandwirt zurücktreten mussten, weil er nicht in die Nationalsozialistische Partei eintreten wollte. Und erzählt gleich noch vom Bombenangriff am 13. Januar 1945, bei dem kurz nach einem Schlachtfest der Metzger Volk umkam und ihre Familie von da an „bis die Amis da waren“ im Keller wohnte.

 

Heimatfilme und Tanzstunden

Vergnügt hat sie sich in den Kinos, im „Adler“ bei Horst und im „Capitol“ bei Gütlich, vor allem sind ihr noch die Heimatfilme in Erinnerung. „Einen Schauspieler habe ich sehr gerne gesehen“, bekennt sie: Hans Holt, der in der „Gottbegnadeten-Liste“ des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda geführt wurde, weil er als „fescher junge Mann, mit sympathischer Gutmütigkeit das weibliche Publikum eroberte“, wie ihn das Deutsche Filmlexikon beschreibt. Nach dem Krieg ging es in die Tanzstunde vom „Becker Schorsch“ im Saal „vom Schad“ und zur praktischen Erprobung auf das Altrheinfest. Dort traf Anna Schorr ihren Adam, „den Ginsemer“. Aber: „Er wollte kein Bauer werden und ich wollte keinen Bauern haben!“ Und doch mussten sie die Tradition zu Hause weiterführen.

 

Enkel und Urenkel

Auch deshalb gab es erst 16 Jahre nach der Hochzeit den ersten Sommerurlaub, nach Oberschönmattenwag im Odenwald. Die Familie freute sich jedes Jahr auf die Kerb im Saalbau und die „Reitschul“ am „Schulplatz“ (dem heutigen „Rosengarten“). Ehrenamtlich war Anna Schorr im Küchenteam des Vereinsheimes der Radfahrer, einmal auch im Begleitfahrzeug der Euro-Radler um Landrat Thomas Will. Die traten nämlich bei einer Tour nach Russland in die Pedale. Ihr Adam war dort nach dem Zweiten Weltkrieg vier lange Jahre in Gefangenschaft. Und konnte deshalb in Kiew, St. Petersburg und Moskau als Dolmetscher aushelfen. Gemeinsam begingen sie noch die Eiserne Hochzeit, doch dann verstarb der Gatte hochbetagt. Anna Schorr hat Dutzende von Fotos von ihm, den vier Kindern, acht Enkeln und ebenso viele Urenkeln um sich herum. Vor dem Haus parkt der Rollator, der täglich „ausgeführt“ wird. Sie sei eben, heißt es im Familienkreis, „fit wie ein Turnschuh“. 

 

Professor Dr. Wolfgang Schneider


neuesausdermainspitze.de // 22.05.2025