„Bischemerin biste, wenn deine Großmutter hier geboren wurde!“ So hat man sie vor Jahrzehnten in unserer Gemeinde empfangen. Willkommenskultur geht anders. Aber sie war das leider gewohnt. Als einziges Mädchen kam sie in ein bayerisches Gymnasium für Knaben. Sie war rothaarig und wurde von Klassenkameraden gehänselt. Auf dem Schulhof schallte ihr es entgegen: „Rote Haare, Sommersprossen, sind die schlechten Volksgenossen!“ Jahre nach dem Krieg war die Nazi-Zeit noch lange nicht überwunden. Aber Ingeborg Lustenberger hat immer genügend Selbstbewusstsein gehabt, auch als sie, die Protestantin, Mitglied der CDU wurde, und die älteren Herren der Partei Frauen gegenüber eher mit Distanz begegneten.
Im 95. Lebensjahr erzählt sie ihre Geschichte. Geboren in Gröditz in Sachsen musste die kleine Ingeborg schon früh flexibel sein, da der Vater als Betriebsingenieur einer Zellstofffabrik immer wieder beruflich versetzt wurde. In der Markbrandenburg ging sie zur Schule und erinnert sich, gerne laut gesungen zu haben; auch Lieder, die nicht zum Repertoire von „Hitler-Jugend“ und dem „Bund Deutscher Mädels“ zählten. Am 1. Februar 1945 klingelte es um 4 Uhr in der Frühe und alle in der Siedlung wurden evakuiert. Es hieß: „Die Russen stehen vor der Tür!“ Mit dem Laster und viel zu Fuß ging es ins Allgäu, „aber dort hat keiner mit mir gesprochen“. Schon deshalb war sie froh, dass der Vater einen neuen Arbeitsplatz fand und zwar in Kostheim.
Eine der ersten Frauen in der Kommunalpolitik
Und so wurde Bischofsheim ihre neue Heimat. Obwohl sie lieber Säuglingsschwester geworden wäre, wurde für sie eine Lehrstelle im Labor gefunden und sie machte ihren staatlichen Abschluss als Chemielaborantin. 1953 heirate sie, baute später ein Haus in der Gustavsburger Straße, bekam zwei Kinder und die wiederum vier Enkel. Ihr 1993 verstorbener Mann pflegte das Kegeln, „und wir, die Kegelfrauen, trafen uns ebenfalls regelmäßig und machten uns einen schönen Abend – ohne Männer“. Es war der Nachbar Helmut Schmid, der sie als Christdemokratin warb, und so wurde sie über viele Jahre immer wieder in die Gemeindevertretung gewählt. Im Gemeindevorstand vertrat sie den Ersten Beigeordneten, wenn dieser mal wieder auf Vortragsreise war.
Und wer sie im Rathaus erleben durfte, der weiß, dass sie die Anliegen der Bürger und Bürgerinnen ernst genommen hat. „Jeder der kam, den habe ich nicht zwischen Tür und Angel stehen lassen.“ Als Verbündete hatte sie die Parteifreundinnen Erika Weiler und Ursula Morgenstern. „Wir haben uns gut verstanden und unsere Meinungen kundgetan.“ Über Parteigrenzen hinaus war es ihr wichtig, Kommunalpolitik zu machen. Mit der SPD hat sie für den Palazzo gestimmt. „Ich stand immer hinter der Bücherei!“ Und immer für hauptamtliches Personal gestritten. Denn das Lesen war ihr Hobby und die Literatur brauche qualifizierte Vermittler. Auch bei den Bemühungen, Partnerschaften in Europa aufzubauen, war Ingeborg Lustenberger mit dabei.
„Immer nur dagegen zu sein, das ist zu wenig!“
Bis vor kurzem konnte man sie noch mit dem Rollator beim Bäcker treffen. Auf die Frage, ob sie den nächsten Seniorennachmittag besuchen wird, antwortet sie selbstbewusst mit Augenzwinkern: „Was soll ich da, da sind ja nur alte Leute!“ Und beendet das Gespräch, ganz die Grande Dame der CDU, mit einem politischen Vermächtnis: „Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Leute AfD wählen; immer nur dagegen zu sein, das ist zu wenig!“
Professor Dr. Wolfgang Schneider
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