Uwe Hager heute mit dem Hohner-Akkordon, mit dem er 1984 sämtliche Kerwelieder musikalisch begleitete
und als „Merkel“ zu Ross
„Kerb gibts doch nur im Bischem“, sagen viele verwundert, wenns um die „Ginsemer Kerb“ geht – und das ist verständlich: In den letzten 30 Jahren hörte die Mainspitze wenig über die Tradition des Ginsheimer Kirchweihfestes, obwohl es diese (laut Aufzeichnungen unseres Stadtschreibers Hans-Benno Hauf) seit Jahrhunderten gibt. Zuletzt erweckten 19 Jugendliche im Jahr 1984 die Ginsemer Kerb nach 13 Jahren Tiefschlaf wieder zum Leben. Und auch dieser Tage spielen junge Menschen aus Ginsheim mit dem Gedanken, der „Ginsemer Kerb“ als Kerweborsch wieder ein Gesicht zu geben.
Uwe Hager erinnert sich noch gut an die konstituierende Sitzung der Kerweborsch 1984: „Hans Hebel (auch genannt „Hennes“), der damalige Inhaber des Ratskellers, erzählte uns, was Kerweborsch so machen, wir wählten einen Vorstand und erstellten eine Satzung.“ Gewählt wurden Uwe Hager (1. Vorsitzender), Peter Kohlmann (Kassierer) und Ralf Offenhammer (Schriftführer). Die Satzung beinhaltete Verpflichtungen wie einen Beitrag von 5 DM pro Sitzung (zur Finanzierung von Kleidung) zu entrichten, aufgrund von Alkoholkonsum unmotorisiert zu erscheinen und nach einem vorgegebenem Regelwerk aus einem Glasstiefel zu trinken. Auch die musikalische Karriere von Uwe Hager (u.a. bekannt durch die Fastnachtsgruppe »Die Altrheinstromer«) begründet sich an diesem Abend. Hans Hebel, der das Treffen der Jugendlichen des Jahrgangs 65/66 initiierte, sagte: „Der Hager spielt Akkordeon, so kann er euch bei den Kerwe-Liedern begleiten“, erinnert sich Uwe, der sein Akkordeon zum damaligen Zeitpunkt schon länger ad acta gelegt hatte. „Als Teenager war mir das einfach nicht cool genug“, sagt er heute lachend.
Die Ufferstandenen
„Die Kerb ist gerettet“ und „Volksfeststimmung nach 13 Jahren Pause“ titelten die Zeitungen, als die Ginsheimer Gastronomen und die Kerweborsch der Tradition am letzten Wochenende im August wieder Leben einhauchten. Schnell einigte sich die Truppe auf den Namen „Die Ufferstandenen“ und legte los. Die Kerwezeitung wurde mit Unterstützung der Gewerbetreibenden erstellt, bei der Bemalung der Umzugswagen half Horst „Hotte“ Stahl (Stadtbekannter Illustrator), Heinrich Hübner (†) vom Erlenhof (heute Rasenpartner) stellte Traktor und Anhänger zur Verfügung und Bauer Rudolf Guthmann (†) stiftete den Kerwebaum, der am Altrheinufer unter großer Anstrengung mit Seilen aufgestellt wurde. „Es war ein riesen Akt“, erzählt Uwe, während er die Fotoalben durchblättert und bei einem Foto von ihm auf einem Pferd innehält. Weil er die Aufgabe des Merkels übernahm, gönnte sich Uwe Reitstunden, um beim Kerweumzug mit dem Wagen seiner Kerweborsch, den Bauscheimer Reitern und einem weiteren Wagen, auf dem der Evangelische Posaunenchor unter Leitung von Hans-Benno Hauf spielte, nicht aus der Reihe zu tanzen. Auf der Rückseite des Umzugswagens grüßte „die Kerwelies“ – eine selbstgebastelte Strohpuppe.
Kerwespruch von Hans-Benno Hauf
Am Altrheinufer luden Karussell, Zuckerstand, Schiffschaukel, Pferdekarussell, Moonwalk-Luftkissen, Schießbuden, Kinderpressluftflieger und Angebote der örtlichen Gastronomie zur ausgelassenen Stimmung ein. In Zeitungsausschnitten von damals feiern Menschenmassen und Angebote wie der Reibekuchen-Verkauf des Cafés Nonnenau lassen die ehemaligen Kerweborsch in Erinnerungen schwelgen: „Samstagabends zogen wir durch die Kneipen und alle waren happy, dass die Kerb wieder auflebte. Wir bekamen im Ratskeller, in der Althreinschänke, im Café Ambach (auch genannt „Odenbach“), im Mainzer Hof, im Heustadl (heute Weinhaus Wiedemann), in der Post und im Festzelt am Altrhein ständig einen ausgegeben“, erzählt Uwe mit funkelnden Augen. Nachdem der Sonntag traditionell mit einem Gottesdienst in der evangelischen Kirche begann, startete der Kerweumzug am Lindenhof (heute: Wohngebiet Ulmenstraße). Bei den Gastwirten trug „Merkel“ Uwe Hager den Kerwespruch auswendig vor, den Hans-Benno Hauf für „Die Ufferstandenen“ verfasst hatte. Die Bezeichnung „Merkel“ passte in diesem Fall perfekt, denn Uwe musste sich bei der 2-seitigen Rede so einiges „merken“.
„Wir waren etwas unerfahren‘“
„Klar, sie hätten ihren Kerwebaum bewachen sollen“, sagen alte Ginsheimer, die sich noch gut daran erinnern, wie Kerweborsch aus einer Nachbargemeinde damals heimlich den Kerwebaum absägten. Aber die Zeit heilt alle Wunden: „Es war nicht so tragisch, wir wollten ihn ohnehin im Ratskeller versteigern“, sagt Uwe heute, während er in einem Zeitungsausschnitt von 1984 seine – von Enttäuschung sprießenden – Statements Revue passieren lässt. Mit dem Verbrennen der Kerwelies und einem Spruch (verfasst von Hans-Benno Hauf, vorgetragen von „Pfarrer“ Stefan Hellbig) endete die Ginsemer Kerb 1984.
Die alte Truppe hilft
Bereits in der nächsten Generation gab es Engpässe an neuen Kerweborsch, so dass zwölf Ehemalige – darunter wieder Uwe Hager als Merkel – aushalfen. „Wir haben diese Tradition endlich wieder zum Leben erweckt. Jetzt darf sie nicht im zweiten Jahr gleich wieder sterben“, dachten wir uns, was auch der Name „Die Traditionsbewusste“ widerspiegelte. Auch in den Folgejahren ergänzten die älteren Jahrgänge das Team der Kerweborsch. Als 1989 die Unterstützung der Wirte nachließ, zog die Kerb ans Bürgerhaus. In Erinnerung geblieben sind vielen u.a. die Schausteller rund um den Autoscooter auf dem Bürgerhausparkplatz und Auftritte von regionalen Bands, wie Trick Bag. Die letzte Ginsheimer Kerb fand 1994 statt.
Vorm Kirchgang vor 40 Jahren: Hinten: Thomas Lösch, Achim Schmenger, Thomas Austen (+), Matthias Reinheimer, Horst Hübner, Wolfgang Fischer, Stefan Schmitt / Mitte: Peter Schroth, Ralf Offenhammer, Peter Hamann, Uwe Hager, Thomas Bender, Stefan Helbig, Peter Kohlmann, Marcus Ries
Vorne: Andreas Hummel, Andreas Schneider, Kai Jugenheimer, Holger Hübner
Am letzten „Kerwewochenende“ im August feierten Die Ufferstandenen ihr 40-jähriges Bestehen: v.l.n.r. Uwe Hager, Andreas Schneider, Wolfgang Fischer, Stefan Helbig, Holger Hübner, Stefan Schmitt, Peter Schroth, Peter Kohlmann
Hans-Benno Hauf – von August 2008, gekürzte Fassung
In einem Kirchenbuch steht eine Notiz, dass das Jahrhundert-Kirchweihfest der im Jahre 1746 erstellten neuen Kirche am 30. und 31. August 1846 „recht solem“ mit Gesang von Kindern und Sängern des Gesangsvereins begangen wurde. Beim Volksfest am folgenden Tag fand eine Schifferwettfahrt statt. Dienstags mittags beschloss eine Maskerade die Volksbelustigung. Fast 100 Jahre lang wurde unser Kirchweihfest wie damals am letzten Sonntag im August gefeiert. Als mit der Einführung des Mainzer Weinmarktes der Zustrom der Kerwe-Besucher nachließ, hat man das Ginsheimer Fest auf den 2. Sonntag im August vorverlegt.
In der Vereinsgeschichte der Ginsheimer Gesangsvereine kann man nun lesen, dass sich am Kirchweih-Dienstag Ende August 1842 eine Schar junger Burschen zusammen mit dem Lehrer Weber im Hause Ph. Stahl neben dem Pfarrhaus versammelte, um Kirchweih zu feiern. Es dürfte anzunehmen sein, dass diese jungen Burschen auch die ersten Ginsheimer Kerweborsch waren. Sehr wahrscheinlich mit der Einführung der Militärdienstzeit übernahmen dann die 19-jährigen das Amt der Kerweborsch. Sie mussten sich ein Jahr vor ihrer Einberufung zum Militär einer Musterung unterziehen. Lange vorher kamen sie – so wie später die jeweiligen Kerweborsch – an Gemeinschaftsabenden zusammen, um sich auf das große Ereignis vorzubereiten. Es wurde tüchtig in eine Kasse gespart, einheitliche, achteckige Kappen wurden bestellt, die zu der Zeit vom Wolle-Geschäft August Traupel (auch unter dem Namen „Wolleschockes“ bekannt) geliefert wurden.
Am Tage der Musterung fuhren sie auf einem mit Pferden bespannten Heuwagen nach Groß-Gerau. Die Rekrutenlieder wurden dabei fleißig gesungen und das heute noch bekannte „Kerweborsch sein lustige Brüder“ stammt noch aus dieser Zeit.
Am Nachmittag kehrten sie – geschmückt mit Bändern (Rekruteschlepp) an den Mützen und Anstecknadeln auf denen die Waffengattung (Infantrie, Artillerie usw.) oder auch „Ein Jahr zurück“ verzeichnet waren – zurück. Am Ortsausgang wartete eine Musikkapelle. Mit zwei Fahnenträgern gab es einen Umzug durch die Ortsstraßen. Dies war eine Vorübung für den im Herbst stattfindenden Kerweumzug.
Die Kerb wurde „aufgezogen“: Wieder unter Vorantritt einer Musikkapelle und zwei Fahnenträgern, dann der Merkel hoch zu Ross von zwei berittenen Begleitern flankiert. Dann war da noch der Mundschenk mit weißer Schürze und Krug und auf dem geschmückten Kerwewagen das Gros der Kerweborsch mit bunten Mützen und Bändern. Diese Anordnung hat sich traditionsgemäß bis heute erhalten. Auch der frühere Schlachtruf: „Wem gehört die Kerb? Unser“ ist heute noch üblich.
Daniele Lentini, Marlon Rösel, Erik Numsen, Carl Guthmann, Michel Maurer,
Nicolas Winterberg, Jorell Schmahl Jimenez, Christof Esterer
Noch tragen sie die Schärpen vergangener Kerweborsch. Dies soll sich im August 2025 ändern. Für den Kerwesonntag (24.8.) planen die jungen Menschen aus Ginsheim einen Umzug, eine Abendveranstaltung, einen Kerwebaum, eine Kerwezeitung und das Verbrennen der Kerwelies. Als Schauplatz wünschen sich die Kerweborsch in spe das Bürgerhaus mit dem zugehörigen Parkplatz. Ein Rummelplatz mit Schaustellern sei perspektivisch ihr Ziel – aber kommendes Jahr wohl noch nicht umsetzbar. „Derzeit befassen wir uns mit der Aufarbeitung der alten Traditionen unter veränderten gesellschaftlichen Aspekten“, erzählt Carl Guthmann.
Zusammenhalt
„Unsere Idee ist eine Jugendgruppe zu schaffen, weil der Zusammenhalt junger Menschen nicht mehr so stark ist“, sind sich die 17 bis 21-jährigen Herren einig. „Wir wollen junge Menschen wieder an den Ort binden und uns auch an Fastnacht und den Heimatfesten beteiligen“, sagen sie. Nach dem Gründen einer WhatsApp-Gruppe seien mittlerweile insgesamt 15 Interessierte beisammen. „Wir wollen aber nur Leute, die wirklich Bock haben“, betonen die Initiatoren, die sich wöchentlich privat zur Vorbereitung der ersten Sitzung am 16.11. treffen. Bei dieser sind ab 19:30 Uhr in der Hofreite Guthmann (Rheinstraße 27) alle Interessierten willkommen. „Theoretisch sind wir schon genug, wir freuen uns aber über weitere Mitstreiter – auch künftige Kerwemädscher sind erwünscht. Wir suchen Leute zwischen 16 und 26 aus Ginsheim.“
Etwas Gänsehautfeeling löst die Parallele zur Geschichte der „Ufferstandenen“ aus – und das nicht nur, weil Daniele Lentini die Truppe – wie einst Uwe Hager – auf einem roten Akkordeon begleitet. Damals – vor 40 Jahren – trafen sich junge, motivierte Menschen aus Heimatverbundenheit. Sie wurden zu Persönlichkeiten unserer Stadt und prägen diese noch heute. Wie es mit den Kerweborsch 2025 weitergeht, erfahrt ihr in Neues aus der Mainspitze.
Axel S.
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