Vom „Laufmädchen“ zur Sekretärin des Bürgermeisters

Die Hundertjährige Liesel Weber erinnert sich an Bischofsheimer Geschichte(n)

Sie wurde im Krisenjahr der Weimarer Republik geboren, sie erlebte den Zweiten Weltkrieg hautnah beim Bombenangriff auf Bischofsheim am 13. Januar 1945 und sie war als Stenotypistin mittendrin in der kommunalen Politik der Nachkriegszeit: Elisabeth Weber, geborene Röthel. Im 100. Lebensjahr erzählt sie mir in ihrem Haus in Stockstadt ihre Geschichte(n), detailreich, unverblümt und mit Humor. 

 

Nach der Volksschule geht sie nach Mainz in die Realschule, wird im Jahre 1937 „Laufmädchen“ bei der Vereinigte Süß- und Backwaren-Fabrik Paul Fels in Mainz, verdient mit einem „Lehrvertrag für den Kaufmannsberuf“ monatlich 13,23 Reichsmark. Die Abschlussprüfung wird wegen des Kriegsbeginns vorgezogen. Sie wird 1939 zum Wehrkreissanitätspark in Wiesbaden dienstverpflichtet, verteilt gerne „Cebion“-Tabletten und erhält deshalb den Spitznamen „Vitaminchen“.

 

„König Ruft Graf“

Am 15. März 1945 wird sie im Rathaus angestellt, sitzt aber zunächst im „Home Office“ beim Standesbeamten Fritzges im Klinker, der wegen einer Kriegsverletzung kaum gehen konnte. Sie trifft auf den Lehrer König, der mit einer weißen Fahne die amerikanischen Panzer begrüßt. Er wird prompt als kommissarischer Bürgermeister eingesetzt. Ihm folgte der Opel-Arbeiter Ruft, bis Karl Graf aus dem Gefängnis entlassen wurde. Zum geflügelten Wort wurde deshalb die Namensabfolge der drei an der Rathaus-Spitze: „König Ruft Graf“. 

 

„Ich war begeistert von ihm“, sagt die Sekretärin zum neuen ersten Mann im Ort, „er konnte zupacken und hatte was im Kopf“. Karl Graf wurde schon 1920 Gemeindevertreter und vertrat auch nach der Eingemeindung 1930 im Mainzer Stadtrat die Belange Bischofsheims. Wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD wurde er verfolgt, zudem von Nachbarn verraten, am Volksempfänger ausländische Sender gehört zu haben und inhaftiert. Am 25. März 1946 hat der Gemeinderat ihn zum Bürgermeister gewählt.

 

1957 musste ein Untersuchungsausschuss wegen „Unregelmäßigkeiten in der Gemeindekasse“ eingesetzt werden. Karl Graf wurde vorgeworfen, seine Dienstaufsicht nur mangelhaft ausgeübt zu haben. Hinzu kam, dass er wohl allzu oft bester Kunde im Weinhaus Krellmann in der Ginsheimer Straße gewesen sein soll. Offensichtlich drängten ihn die eigenen Genossen, „aus gesundheitlichen Gründen“ die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zu beantragen. 

 

Elisabeth Weber war die einzige Frau in der Gründungsversammlung des Heimat- und Geschichtsvereins 1950. Sie heiratete 1952, ein Jahr später kam Sohn Ulrich zur Welt, 1958 sein Bruder Reinhard. In Stockstadt bauten sie ihr eigenes Haus. Dort lebt sie seit fast 50 Jahren alleine, „aber gut versorgt von der Nachbarschaft“. Und blickt immer wieder gerne auf ihre Geschichte und Geschichten in Bischofsheim zurück.

 

Die Langfassung des Zeitzeugengesprächs ist auf der Website www.museum-bischofsheim.de nachzulesen.

 

Professor Dr. Wolfgang Schneider



7.12.2023