Zwischen Damm und Rhein beim „Heurigen“

Wohnen in der Mainspitze

Iris Ansems und Gerhard Katschthaler wohnen an einem geschichtsträchtigen Ort, den jeder kennt, der schon einmal über den Damm zwischen Ginsheim und Gustavsburg spazierte. „Zum Heurigen“ heißt das Fachwerkhaus im Bleiauweg mit Gaststätte im Erdgeschoss und Wohnmöglichkeiten in den beiden Stockwerken darüber. Wunderlich ist, dass man das vermeintlich historische Fachwerk auf alten Bildern nicht wiederfindet, obwohl es sich bei jedem verbauten Holzblaken tatsächlich um einen über 100 Jahre alten Fachwerkbalken handelt. Warum das so ist, erfahrt ihr in dieser Geschichte über eine außergewöhnliche Wohnsituation im Hochwassergebiet und dem gekonnten Recycling von altem Baumaterial.  

 

„Der Gastraum bleibt bei Hochwasser trocken“, erzählt Gerhard Katschthaler wie selbstverständlich, während er mir einen stählernen Türrahmen und eine große Stahlplatte zeigt. „Zwei Tage, bevor das Wasser steigt, wissen wir Bescheid. Diese Platte ist rundum mit Dichtungen aus dem Bootsbau versehen, wird mit dem Türrahmen verschraubt und hält dicht“, beschreibt der gebürtige Österreicher seine Erfindung, zu der auch gehört, dass er den gesamten Außenbereich unterhalb des Fachwerks mit Schwimmbadbeton und Fliesen wasserdicht anlegte. Was für Gerhard Routine ist, sorgte bei Iris nach ihrem Einzug vor 11 Jahren zunächst für ein mulmiges Gefühl. „Ich komme aus Delkenheim und hatte mit Hochwasser nie viel zu tun. Mittlerweile ist es aber Gewohnheit und wir sind sogar darauf vorbereitet, falls Wasser in den Gastraum eindringen würde“, erklärt Iris Ansems. Der Boden im Innenraum verlaufe nämlich Abschüssig in Richtung der Bodenabläufe in Küche und Toilette. „Wir müssten in diesem Fall einfach kurz die Pumpe einschalten und alles ist gut“, sagt Gerhard entspannt. Es sind diese selbst entwickelten Geniestreiche, die den Charme des Hauses ausmachen, das Gerhard Katschthaler 1995 kaufte und seitdem restauriert.

 

Kiosk, Strandbad und Bikini

Als Gasthaus urkundlich erwähnt wird das Gebäude erstmals 1870. Mit drei Ziegelbrennöfen produzierte man damals Baumaterial für Wohnhäuser und transportierte dieses mit Pferdefuhrwerken ab. Um Wartezeiten zu überbrücken entstand ein Kiosk. 1900 nutzte die erste Müllabfuhr das Gelände als Deponie für Hausmüll bevor dort in den 1950er Jahren eines der ersten Schwimmbäder entstand. „1956 wurde hier sogar der erste Bikini im Strandbad vorgeführt“, erzählt Gerhard schmunzelnd.

 

Baumaterial mit Geschichte

Gerhard Katschthaler übernahm das Gebäude als „Ruine“ ohne Fachwerk. Um Wasseranschlüsse, die Elektroinstallation und Brandschutz unter Dach und Fach zu bekommen, baute er das Haus quasi neu auf. Durch einen glücklichen Zufall erwarb er ein altes Fachwerkhaus in Bad Schlangenbad, welches er dort ab- und in Gustavsburg wieder aufbaute. Die Steine im Fachwerk stammen vom Originalbau im Bleiauweg 11. „Ich reinigte um die 10.000 Steine mit einer Stahlbürste und setzte sie ins Fachwerk ein“, erinnert sich Gerhard, der auch das Kopfsteinpflaster seines Hofs zusammensammelte. „Die meisten Steine bekam ich von Bauern der Region. Vor allem Bauer Guthmann half mir sehr. Ich schaute mir dann die Steine an, überlegte mir ein Muster und pflasterte den heutigen Biergarten“, so Gerhard.

Seine Leidenschaft aus Altem etwas Neues zu schaffen setzt sich im Innenraum fort. Aus Türen baute er Wandverkleidungen, mit Balken und Steinen strukturierte er die Räume.

 

Hobby, Beruf und Lebenswerk

Wer sich länger mit dem Gebäude und dem Restaurant befasst, fragt sich schnell, was eigentlich Gerhard Katschthalers Beruf ist: Gebäuderestaurator oder Gastronom? Als ich ihn genau das frage, antwortete er lachend: „Das Restaurant ist unser Hobby, die Umbauten meine große Leidenschaft“. Obwohl er von berufswegen – er arbeitet als Kachelofenbauer – handwerkliches Geschick besitzt, erwarb er sich das Spezialwissen zur Haussanierung stets selbst und ging dabei häufig unkonventionelle Wege. „Iris beschreibt mir oft ihre Ideen und ich überlege dann, wie ich es umsetzten kann, denn für Haus- und Raumgestaltungen mit gebrauchtem Baumaterial im Hochwassergebiet gibt es keine Bauanleitung“, sagt Gerhard, der das Gebäude immer wieder erweitert und davon überzeugt ist, nie fertig zu werden.

 

Wer einen Eindruck von Iris und Gerhards Wohngefühl bekommen möchte, sollte einmal „Zum Heurigen“ zum Essen kommen. Ein kurzer Blick in den Gastraum oder die neue Scheune genügt, um zu Entspannen. Denn die alten Materialien strahlen eine Ruhe aus, die für eine besondere Aufenthaltsqualität des Lebensraums sorgt. Iris Ansems und Gerhard Katschthaler wohnen einfach in einem neuen, alten, sich ständig weiterentwickelnden Kunstwerk.

Axel S.


In der Serie »Wohnen in der Mainspitze« stellen wir Menschen vor, die in besonderen Behausungen oder an exponierten Orten leben.

Wenn ihr eure Geschichte erzählen wollt, meldet euch unter team@gigutogo.de.




03.03.2022