Fünf Jahre gab es zu feiern, seit langer Zeit mal wieder in Präsenz: Die Kultur-Stiftung Ginsheim-Gustavsburg lud Ende September zur Versammlung ins Bürgerhaus und vergab erstmals das Merian-Stipendium an Barbara Wiebe. Die Musikerin belebte den Abend mit Gitarre und Gesang, an Saxofon und Klavier. Die Vorsitzende Jutta Westhäuser konnte nicht nur die Erste Stadträtin, Susanne Redlin, den Stadtverordnetenvorsteher Thorsten Siehr und Alt-Bürgermeister Richard von Neumann begrüßen, sondern auch den Stadtschreiber Hans-Benno Hauf, der mit Mitteln der Stiftung alte Dokumente der Heimatgeschichte restaurieren ließ und diese stolz den Anwesenden präsentierte. Zum politischen Hintergrund kommunaler Kulturförderung hatten sich die Kultur-Stifter einen Festvortrag von Professor Dr. Wolfgang Schneider aus dem benachbarten Bischofsheim gewünscht, der uns exklusiv eine Kurzfassung für „Neues aus der Mainspitze“ zur Verfügung stellte:
Die gemeinnützige Kultur-Stiftung Ginsheim-Gustavsburg unterstützt seit fünf Jahren künstlerische Prozesse und kulturelle Veranstaltungen aller Sparten. „Mit den Stiftungserträgen fördern wir Projekte und füllen Finanzierungslücken – zusätzlich zum vorhandenen Kulturetat“, heißt es in der Stiftungssatzung. Das ZUSÄTZLICH (im Flyer in Versalien geschrieben) hat seinen Grund und ist die Ausgangslage für das Surplus, für das die gemeinnützige, öffentliche Stiftung bürgerlichen Rechts ehrenamtlich Verantwortung trägt.
Kulturförderung ist in erster Linie Kommunalpolitik, stellte schon 1979 der Deutsche Städtetag fest. In der Tat werden die meisten Ausgaben hierfür von den Gemeinden, Städten und Kreisen aufgewendet. In zunehmendem Maße gerät Kulturpolitik aber unter den Druck ihrer Finanzierung. In Zeiten knapper Kassen wird zunächst bei den sogenannten freiwilligen Aufgaben gekürzt. Denn die Verpflichtung der Politik, Kultur zu fördern, ist bisher nicht genau definiert worden. Deshalb gilt es, die kulturelle Grundversorgung zu beschreiben, zu sichern und notwendige Strukturreformen einzuleiten. Im besten Falle; noch besser durch die offizielle Einsetzung einer Kulturkommission, wie nach der Kommunalwahl in Bischofsheim geschehen, oder viel besser durch sogenannte Kulturentwicklungsplanungen, wie es dem Kreis Groß-Gerau gut anstehen würde – und was ja ein Thema des Landratswahlkampfes werden könnte.
„Der Staat schützt und fördert die Kultur“
Die Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages schlägt in ihrem Abschlussbericht von 2007 vor, mit einem Artikel 20b das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dahingehend zu präzisieren: „Der Staat schützt und fördert die Kultur“. So soll es heißen; bis zum heutigen Tag ist dies aber durch beharrliche Verweigerung der CDU/CSU-Fraktion verhindert worden. Das kann sich ja ändern, Melanie Wegling, übernehmen Sie! Denn im Wahlprogramm der SPD versprechen die Genossinnen und Genossen erneut, das Staatsziel Kultur in der Verfassung zu verankern.
Kultur sowie die gesellschaftliche Teilhabe an der Kunst nähren Vorstellungen davon, wie ein gutes und gelingendes Leben aussehen kann. Schon die Philosophen der Antike haben von „Lebenskunst“ gesprochen. Die Künste erscheinen dabei als Gestaltungswerkzeug und bieten viele Möglichkeiten, um menschliche Lebenssituationen und Empfindungen verarbeiten zu können. Solche Gestaltungen haben immer auch kritischen, wertenden und interpretierenden Charakter.
„Kultur für alle und von allen“
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den Menschen Gelegenheit zu geben, ihre eigenen kulturellen Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln und ihnen zu folgen. Gleichzeitig muss man sie am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilnehmen lassen. Kunst und Kultur haben heute wie in allen Epochen zuvor entscheidenden Anteil an der Veränderung der Gesellschaft. Das ist auch der Hintergrund von kulturpolitischen Programmen wie „Kultur für alle“ des früheren Kulturdezernenten von Frankfurt am Main, Hilmar Hoffmann, aber auch die Legitimation der Konzeption „Kultur von allen“ zur aktiven Teilnahme möglichst breiter Bevölkerungsgruppen am kulturellen Leben.
Um der Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden, bedarf es einer Kulturpolitik, die insbesondere den Prozess der kulturellen Teilhabe vorantreibt. Künstlerinnen und Künstler mit öffentlichen Mitteln zu fördern, hat in Deutschland Tradition und Akzeptanz. Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, mit allen Widersprüchen darstellt, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken sie direkt auf die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung.
„Kultur ist kein Sahnehäubchen auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig“
Im politischen Alltag scheint ein solches Verständnis nicht überall geteilt zu werden. Im Frühjahr dieses Jahres wurde ich vom Finanzausschuss des Hessischen Landtages um eine Stellungnahme zum Prüfbericht des Rechnungshofes gebeten. Dort heißt es im Vorwort: „Bei den Haushaltsstrukturprüfungen lag der Fokus auf der Frage, wie der Haushaltsausgleich (der Kommunen, Anm. d. Verf.) erreicht und dauerhaft gesichert werden kann. Als Stellschrauben dafür wurden insbesondere der Personaleinsatz in der Allgemeinen Verwaltung, ausgeglichene Gebührenhaushalte und die Höhe der selbstgesetzten Standards und freiwilligen Leistungen analysiert.“
Ein solches Denken kann aber auch als Verstoß gegen das Menschenrecht auf Teilhabe am kulturellen Leben und als Widerspruch zur Hessischen Verfassung verstanden werden. Diesen Auftrag haben wir Bürgerinnen und Bürger selbst letztens bei einem Volksentscheid mit dem Artikel 26e („Die Kultur genießt den Schutz und die Förderung des Staates, der Gemeinden und Gemeindeverbände“) auf den Weg gebracht. Und deshalb wird, meiner Meinung nach, das Vorgehen des Rechnungshofes in Sachen kommunaler Kulturausgaben, dem Gegenstand nicht gerecht. Kultur ist eben kein betriebswirtschaftliches Konstrukt, bei dem an imaginären Schrauben gedreht werden kann, um Einnahmen zu generieren. Kultur ist kein Sahnehäubchen auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig, wie es unter anderen der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau einmal formuliert hat – und muss deshalb nicht nur in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten gefördert werden. Unrühmliches Beispiel in Hessen ist der sogenannte „Kommunale Schutzschirm“ des Landes seit 2012, der in fast allen rund 100 Kommunen zu erheblichen Kürzungen in der Kultur geführt hat.
„Empfehlung aus lokalpatriotischer Gesinnung: Kultur-Stiftung Mainspitze“
Kommunen werden im Bericht gelobt, wenn sie hohe „Eigenfinanzierungsquoten“ generieren. Eine solche Sichtweise missachtet das Problem, dass viele Menschen, auch in Hessen, sich Kultur nicht leisten können, weil die Eintrittspreise zu hoch und die Bildungsabschlüsse zu niedrig sind! Deshalb haben Kommunen und Zivilgesellschaft Gegenmaßnahmen ergriffen und gewähren zum Beispiel Kindern und Jugendlichen freien Eintritt, Zugangsberechtigungen für sozial Bedürftige und ältere Menschen oder dem Nachwuchs in den Künsten Preise und Stipendien. Auch das ist Barrierefreiheit!
Die Pandemie hat die Kulturlandschaft schwer getroffen! Schon lange schwelt die öffentliche Debatte um Systemrelevanz. Wenn alles gut läuft, werden die Künste gerne goutiert, in Krisenzeiten ist selbst die Schließung von Kultureinrichtungen möglich und der Verzicht offensichtlich verzeihbar. Wenn Sinn und Wert des kreativen Schaffens kulturpolitisch nicht ausgehandelt werden, dann wird sich nach Corona nichts ändern. Es gilt deshalb, jetzt nachhaltig die Weichen zu stellen, damit der Lohn kultureller Arbeit zukünftig zum Leben reicht und die künstlerische Kreativität als gesellschaftliches Gut gewertschätzt werden.
Insofern ist auch eine Kultur-Stiftung ein kulturpolitisches Instrument. Sie machen aufmerksam, Sie machen möglich, Sie machen das, was fehlt. Und ich ermuntere Sie ausdrücklich, lassen Sie nicht nach, auch den Anteil der Kulturförderung von Stadt und Kreis und Land und Bund und Europa einzufordern. Im Auftrag der Kulturschaffenden, stellvertretend für die Menschen der Region, gewissermaßen als Ihr Beitrag zur kulturellen Bildung. Ich gratulieren zum kleinen Jubiläum einer großen Sache, und wenn ich mir einen Geburtstagswunsch erlauben darf, empfehle ich aus lokalpatriotischer Gesinnung: Machen Sie in den nächsten fünf Jahren aus der Kulturstiftung Ginsheim-Gustavsburg eine Kultur-Stiftung Mainspitze. Mich haben Sie auf Ihrer Seite!
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